Herbstlicher Baum
in der Neuhaußstraße

Wie sehr bemerkenswert ist doch
ein dunkler Baum, durch den ein Wind geht,
wenn dieser Wind schön mild ist und
der große Baum scharf gegens Licht steht,
doch so, daß er am andern Rand
sich ganz und gar vereint dem Glänzen.
So also, links vom Licht begrenzt
und rechts so lichterfüllt, daß Grenzen
im Leuchten einfach weg sind und
ein Seufzer kommt aus meinem Mund.

Aus: Gesammelte Gedichte 1954–2006, S. 210

Ein Penner und ein Banker begegnen dem Dichter auf der Frankfurter Zeil

Zwischen dem Penner und mir da klafft
ein Abgrund. Der nennt sich Leben.
Er steht dort drüben. Und ich stehe hier.
Aber beide stehn wir daneben.

Mitten im Leben steht keiner von uns.
Da steht man nicht, da fällt man.
Und der, den’s am schnellsten nach unten reißt,
ist der Mann von Welt alias Geldmann.

Wir schaun seinem Fall gelassen zu:
Der hat bald ausgelitten.
Ein Penner links, ein Dichter rechts,
der Banker fällt inmitten.

Aus: Gesammelte Gedichte 1954–2006, S. 963 f.

Nach der Lektüre einer Anthologie

Der Pissefleck am Fuß der Rolltreppe der
U-Bahn-Station Miquel-Adickes-Allee

Ich behaupte nicht, daß er besser ist
als eines der vielen Gedichte
die ich heute gelesen habe
ich weiß nur, daß er mir mehr sagt

Dieser Pissefleck am Fuß der Rolltreppe der
U-Bahn-Station Miquel-Adickes-Allee
Redet davon, daß da wer unter Druck stand
Kündet davon, daß das unbedingt raus mußte
Zeugt davon, daß der, den es drängte
schnell was aus einem Guß hinlegte
Diesen Pissefleck am Fuß der Rolltreppe der
U-Bahn-Station Miquel-Adickes-Allee
Vor Augen gedenk ich der Stimmen
die heut zu mir sprachen, so
drucklos, so dranglos, so
schwunglos, so harmlos, so
bißlos, so zwanglos, so
harnlos, so hirnlos.

Aus: Gesammelte Gedichte 1954–2006, S. 388