Neue Rundschau

Krisen. Schlachtfelder der Bewährung.

Ein Essay von Marlene Streeruwitz

Neue Rundschau Streeruwitz

Riesige rosarote Dahlienblüten, die in einen orangeblühenden Rosenstrauch hineinragen. Das ist mein Trost. Jeden Tag gehe ich an diesem Garten vorbei.

     Hier. In London. Im August. Wir leben in der "cost of living crisis" des Jahres 2023. Jedes vierte Kind bekommt nicht genug zu essen. Jeder fünfte Haushalt muss Mahlzeiten überspringen. Die Preise für Lebensmittel sind um 17,1 % gestiegen. Seit der Finanzkrise 2008/2009 sind die Löhne im United Kingdom gleichgeblieben und so entwertet.

     Was bedeutet es aber nun, wenn das Wort Krise auf jeden Augenblick eines Lebens zutrifft? Wie das für Armut der Fall ist. Oder für Behinderung. Für Schicksal. Hunger. Sind diese Worte nicht alle Verstecke für das Wort Krise? Und zeigt sich nicht einmal mehr, was für ein perfides Instrument unser Sprechen ist, das die Sprache selbst gegen uns anwendet. Denn. Die Vielzahl der Krisen in das Wort Armut zusammengefasst. Wird das nicht zu einem unüberwindlichen Berg von Verzweiflung, der immer so viele Verzweiflungen auf einmal ist. Diese Verzweiflungen müssen als Verzweiflung ausgehalten  werden. Als Krise. Ohne den Plural ins Sprechen zu bringen und damit ein Maß der Dinge herzustellen. Könnte die Verzweiflung in die vielen Verzweiflungen aufgeteilt noch ertragen werden? Sind diese Singulare, diese Einzahlen, nicht die Grundmittel der Beherrschung. Selbstbeherrschung und Unterdrückung durch andere. Betrug in Zusammenfassungen ins kleinstmögliche Maß. Großzügigkeit in Quälerei. Eine Person, die jeden Augenblick ihre Armut leben muss, muss die in die Abstraktion des Singulars flüchten, um es ertragen zu können. Ist der Singular der Krise der Trick, die Verzweiflungen in eine einzige zusammenzuschmelzen. Macht der Singular diese Worte nicht unbetretbar, und bleibt die Person in Armut damit sich selbst entfremdet?

     Und dann. Die Armut der anderen ist ja immer auch die eigene Armut. Der Hunger der anderen. Die Bedürftigkeit anderer. Der Körper weiß das und reagiert. Abwehr oder Mitgefühl. In den Affekten erzählt sich diese Entscheidung. Und. Der „culture war“ in der Politik der englischsprachigen Kulturen findet diese Entscheidung entlang statt. Was für die Mitfühlenden die konstruierte Krise des politischen Systems ist, das ist für die Abwehrenden das persönliche Scheitern von unfähigen Personen und nicht bedenkenswert. Es ist Fühlen, mit dem diese Entscheidung getroffen wird. Ein Fühlen ist das, in dem sich die Person insgesamt darstellt. Und wie immer. Die Bestätigung herrschenden Sprechens in diesem VersteckSprechen der üblichen Sprachen kann schnell fallen und sich in den Vordergrund drängen. So ist Ekpathie. Empathie dagegen hat nur Umständliches zu ihrem Ausdruck. Empathie. Da will die empathische Person Genaueres wissen und nicht in Verallgemeinerungen verfallen. Empathie. Die erforscht sich erst selbst. Die braucht Zeit, sich auszudrücken und bleibt beim Einzelfall.

     Da. Wo wir leben. 2023. In der klimakrisengeschüttelten Welt. Da wird ekpathisch verallgemeinernd geredet, damit die Sprache des Ausschlusses erhalten bleiben kann. Es geht ja darum, sich einen Platz unter den Ausschließenden zu sichern. Es stehen also die Dauerkrisen des Ausschließens der Dauerkrise des AusgeschlossenSeins gegenüber. Aber. Wir haben nur die Sprache des Ausschließens zu Verfügung und können das AusgeschlossenWerden nicht erzählen. Das müssen die Körper übernehmen. Wenn sie vor Hunger mager werden. Wenn sie ungepflegt als „homeless“ am Straßenrand sitzen. Wenn gestorben werden muss, weil die britische Regierung die „public services“ so ausgehungert hat, dass es keine Rettungstransporte ins Spital mehr gibt. "More than 43.000 people were declared dead by the time an ambulance arrived last year.", steht in der Daily Mail. Die Verstecksprache des normal Ekpathischen ist tödlich. Gesellschaftlicher Ausschluss handelt immer von Leben und Tod. Und so sprechen wir.

     Ich bin dem Wort Krise als kleines lesendes Mädchen begegnet. "Krisis" hieß das in den Jugendbüchern für Mädchen, die ich in großer Zahl in der Kinderbücherei der Stadtbibliothek Baden las. Die Krisis. Das war das Wort, das auf die Situation schwerkranker Männer angewandt wurde. In den Büchern ging es um die Pflege dieser schwerkranken Männer. Da gab es die aufopfernde Ehefrau am Bett des kranken Manns wachend. Da gab es die hingebungsvolle Krankenschwester, die den Arzt ergänzte. Da gab es die junge Ärztin als Assistentin des Professors, die ihren ersten Fall zu bewältigen hatte.

     Das waren alles Jugendbücher, die noch aus der Nazizeit stammten oder sich noch nicht sehr weit von deren Vorstellungen entfernt hatten. Immer fand die Krisis in der Krankheit dieser Männer in der Nacht statt. Die Krisis wurde jeweils vorausgesagt. Die Bewältigung der Krisis wurde genau geplant. Die Krisis wurde bewältigt. Der Kranke war daran nicht beteiligt. Die Krisis war Angelegenheit der ärztlichen Kunst und der Krankenpflege. Die Kunst war den Ärzten überlassen. Die Pflege fiel den Frauen zu. Ich kann mich an kein Scheitern an der Krisis erinnern. Immer war die Zusammenführung von ärztlicher Kunst und aufopfernder Pflege siegreich. Es war ein militarisierter Vorgang. Der Patient war die Landschaft. Das Schlachtfeld. Die Krankheit der feindliche Angreifer. Ärztliche Kunst und Krankenpflege bildeten die Verteidigung. Die Krisis war die Zeit der Schlacht. Medizin und Zuwendung in der Pflege kämpften gegen die Störung im Körper des Kranken.

     In diesen Büchern sollten Berufe im medizinischen Bereich nahegebracht werden. Der Patient war also ein Schaustück der Berufsberatung. In der Logik der 50er Jahre war das heteronormativ und vormodern rollenkonform. Der bewusstlose Körper des Kranken wurde durch die Krisis hindurch ins Leben zurückgeleitet. Der Feind im Körper des Kranken wurde besiegt. Die Person dem Leben zurückgegeben. Die Diagnose war die Kriegserklärung gegen den Feind. Die Behandlung der Krieg. Die Krisis die Schlacht. Das Überleben der Sieg und der Feind vernichtet. Die Krisis war überwunden.

Und so leben wir.

     Wir reden ekpathisch von Überwindung von Krisen, weil wir keine andere Sprache haben. Wir leben ekpathisch gegen uns selbst, weil wir uns - und das wieder - in einem großen Projekt einer quasimilitaristischen Mobilisierung in Modell und Sprache ausgesetzt sehen. Die französischen Revolutionäre hatten schon recht, alles neu sprechen zu wollen. Wir haben ja weiterhin eben nur dieses überkommene VersteckSprechen zu Verfügung, in dem schon die Imperien mit Hilfe der Religionen die Personen gegen sich selbst aufhetzen konnten, ihren eigenen Ausschluss zu bejubeln. Jede sozial eingestellte Person spricht ununterbrochen ihren eigenen Ausschluss, weil nichts anderes gesagt werden kann, und versetzt sich damit in einen Zustand der Dauerkrise des Dauerleids an der Welt. Empathie kann ja nicht einmal empathisch analysiert werden. Denn. Diese ekpathische Sprache ist es ja, die den Begriff des Opfers konstruiert. Opfer. Das ist eine der vielen Formen des Ausschlusses und im Ekpathischen die schlimmste Entwertung.

     Im also ekpathischen Mythos fallen Krisen über die Personen her und die, die aufgeben oder scheitern. Die sind Opfer. Und die, die im Ekpathischen bleiben können oder müssen, die haben die Nacht überlebt und dürfen ins Leben zurück. Denn. Täuschen wir uns nicht. Krisen. Das sind hergestellte Vorgänge. Das Unvermeidliche. Das verbuchen wir unter Schicksal. Die Krisen. Die werden uns ins Haus geliefert. Die werden von irgendjemandem gemacht. Krisen beruhen auf Ekpathie. Es wird zugemutet. Zugetraut. Zugefügt. Das Präfix "zu" beschreibt eine Bewegung auf ein Ziel hin. Die Zumutung, die der Person zugetraut wurde, ist eine Zufügung. Die Person ist ein Opfer.

     In London. In Kew Gardens. Ich gehe von Bank zu Bank und sitze lange. Ich starre auf die Riesenbäume da. Schöne, weitausladende, riesige Bäume stehen da. Diese Bäume haben ihre Idealform ausbilden können, weil sie genug Platz bekommen haben, wachsen und werden zu können. Nach der Euphorie über diese Schönheit werde ich dann wieder sehr traurig. Die Bäume an den Straßen und in den Gärtchen. Hier. In London. Sie werden zurechtgestutzt. Sie müssen klein bleiben. Ihre Wurzeln würden sonst den Gehsteig beschädigen. Das würde Geld kosten. Und wir leben ja schließlich in einer "cost of living crisis". Auch die Natur muss sich dem Ausschluss und dem Einschluss stellen, weil im Ekpathischen die Natur zu einem Mitspieler erklärt werden und völlig unnatürlich mit den Folgen dieser Vermenschlichung belastet werden kann.  Dieser Vorgang "hilft" ja dann auch, wenn es um die Klimakrise geht. Die Natur wird entweder zum Objekt stilisiert oder zum Opfer. Den Umständen wird beides nicht gerecht, wenn es um das Natürliche ginge, weil Natur ja längst nicht mehr existiert. Zu viele Krisen wurden den Landschaften zugemutet.

      Krise. Krisis. Ist das Mittel, das die Krise verkünden kann, dann selbst schon Krise? Ist Sprache selbst die Krise? Nun. Es geht ja immer um Veränderung. Ich kann mich an Predigten in der katholischen Stadtpfarrkirche in Baden erinnern, in denen mir das Wort Krise als Chance erklärt wurde. Ein altgriechisches Lehnwort gegen eine altfranzösische Entlehnung, die auf das lateinische Verb cadere zurückgeht. Wie perfekt sich diese ewigen Erbschaften unserer Sprachen an so einem Beispiel darstellen lassen. Und wie perfekt, wie diese ewigen Erbschaften unsere ewige Einschränkung erzählen. Nie genug Platz in den Wörtern, wachsen und werden zu können. Nie genug Platz, die eigene Idealform ausbilden zu können. Immer schon beschränkt im Ekpathischen, müssen wir klein bleiben. Wir würden sonst Geld kosten. Für Bildung etwa. Oder Essen. Oder Wissen. Oder Verständnis. Weil Empathie nichts Materielles einträgt und immer nur einschließt und damit immer nur noch mehr Geld kostet. Wir werden in Selbstbeschränkung ins Ekpathische hineintrainiert. Die Predigt über Krise als Chance war da nur so eine Trainingseinheit im langen Strom der Zurichtungen. Wenn aus der ekpathischen Ansprache die Reaktion des Körpers entspringt. Wenn das Unbehagen die Wahrheit ahnt, aber nicht sagen kann. Erst wenn es so dringlich wird wie in dieser "cost of living crisis" und der Hunger die Erziehung übernimmt.

     Der Klimawandel wirke sich auch auf Kew Gardens aus, steht im Informationsflugblatt. Klimawandel. Das ist auch so ein VersteckWort. Und. Es ist zu sehen. Auch die Tropenbäume, die sich in oft bis zu 100 Jahren an das Klima in Kew Gardens angepasst haben, zeigen Hitze- und Trockenheitsschäden. Sequoia sempervirens. Styphnolobium japonicum. Robinia pseudoacacia. Und sogar die heimische Quercus castaneifolia. Sie alle zeigen Schäden. Der Klimawandel hat diese Lebewesen mit einer Krise konfrontiert. Aber kann so eine Krise überwunden werden? Was heißt das? Eine Krise überwinden?

      In der Logik des Ekpathischen. Es klingt nach Sieg. Es beschreibt sich automatisch ein kriegerischer Vorgang. Aber was ist es nun, was sich da der Person in den Weg stellt? Was sind die veränderten Umstände, die die Krise darstellen? Und warum ist es immer positiv, wenn eine Krise bewältigt und damit überwunden wurde?

     Wieder. Es ist die Logik unserer Kultur des Ekpathischen, die es begehrenswert macht, zu überwinden und damit hinter sich zu lassen. Die Herausforderung annehmen und bewältigen. Sisyphos kommt mir in den Sinn. Die Herausforderung des Tropensturms Idalia, der gestern Florida erreichte und heute in Georgia Überschwemmungen verursacht. Diese Herausforderung. In der Praxis ist sie das. In der Ursache. Da würden die beiden Parteien des Ausschlusses und des Einschlusses aufeinanderprallen. Diese Krisis. Die Wissenschaft sagt, dass die Klimakrise menschengemacht ist. Aber auch hier. Im Bestreben im Ekpathischen zu bleiben, ist auch die Wissenschaft ein Glaubenssystem geblieben. Dominanz geht immer auf Glauben zurück. Wem geglaubt wird, dem gehört die Macht. Und hier wird mit voller Absicht nicht gegendert. Wir verdanken unsere Welt und wie sie ist und wie sich die Krisen anhäufen nicht dem Versuch, alle in das Werden und Wachsen der Leben einzubinden und zu fördern. Im Gegenteil. Wir werden in die ekpathischen Sprachen zur Form unserer Verständigung gezwungen und verlängern damit das Begehren zu dominieren.

     Ich will keine Krise. Ich akzeptiere keine Krise. Ich will das Wort nicht hören. Ich will wissen, was dahintersteckt. Warum ich mich mit künstlicher Intelligenz auseinandersetzen muss? Warum ich wieder ein neues Medium lernen soll? Wer verdient daran? Wem gehört das alles? Warum gehört mir nicht die Welt, in der die Bäume und wir genug Platz bekommen, das Idealmaß zu erreichen? Ich will nicht in Medien wie dem Guardian heute dieses widerliche Allgemeinlob bekommen, dass meine Generation ja doch so viel Veränderung verarbeitet hat. Ich will bestimmen, was ich bewältigen will und was nicht. Ich will mitbestimmen, ob es weitere Waldbrände auf der Welt geben soll oder nicht. Und ich will nicht die Folgen des Ekpathischen aushalten müssen. Ich will eine neue Sprache in empathischem Sprechen und nicht mehr diese Tätersprache, in der ich automatisch zum Opfer gemacht werde. Ich will eine soziale Person sein können und nicht dafür ausgelacht werden, dass ich Frieden leben möchte. Ich will nicht mehr den mordlustigen Personen unterliegen, die am Krieg in der Ukraine profitieren. Wirtschaftlich oder ideologisch. Ich will aus dieser Grundkonstruktion Krise herauskommen, aus der sich unsere Kulturen herleiten. Ich will der Sprache der Ekpathie entkommen, die mich zwingt, mich selbst zum Opfer zu erklären, um dann, in einem kriegerischen Akt gegen mich selbst, mit der Überwindung wieder einer der von außen induzierten Krisen mir einreden zu können, es geschafft zu haben. Und das "es" bleibt unbeschrieben ungewiss. Die ekpathisch hergestellte Krise behauptet eine Ungewissheit. Ein NichtWissen ist das, das angstbegründend die Leben grundiert und uns in Glaubenssysteme auseinander drängt. Eine neue Sprache muss einen neuen Weg finden, Glauben und Wissen durch andere Erkenntnisformen dem gelebten Leben anzunähern. Ein Leben müsste das sein, das dann auch gesprochen werden kann. Mitgeteilt. Meinetwegen wäre das getanzt, und wir sprächen im Tanz miteinander. Alles und wie auch immer. Nur nicht wieder Krisen als Schlachtfelder der Bewährung und die Marschmusik dazu.

 

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Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2024/1

Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter zuletzt den Bremer Literaturpreis und den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Die Schmerzmacherin.« stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen ...

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