Interviews

Drei Fragen an Judith Hermann

Im Gespräch mit ihrer Lektorin Petra Gropp berichtet Judith Hermann von ihrer eigenen Erinnerung an die Vergangenheit, den Zusammenhang von Wehrhaftigkeit und Mut und der Arbeit an ihrem Roman »Daheim«, über den sie heute selbst staunt.

Judith Hermann Autorenfoto
© Gaby Gerster
Liebe Judith Hermann, »Das Leben verlangsamt sich, findest du nicht«, sagt die Figur Mimi in Ihrem Roman »Daheim«. Als Lesende habe ich das Gefühl, dass vieles in dem Roman unser heutiges Gefühl sehr genau trifft. Sie haben den Roman Ende 2019 abgeschlossen und in einer Zeit geschrieben, bevor wir wussten, dass wir eine Pandemie erleben würden. Wie schauen Sie heute auf diesen Roman?  

Es geht mir mit dem Buch »Daheim« so, wie mit allen meinen Büchern – wenn sie abgeschlossen sind, kann ich schwer glauben, dass ich sie geschrieben habe. Mit dem Ende eines Buches schließt sich ein bestimmter Raum, zu dem es für mich dann keinen Zugang mehr gibt. In gewisser Weise staune ich über den Text, und von heute aus gesehen staune ich auch über die eine oder andere Andeutung, die in den Zeiten der Pandemie plötzlich einen unbeabsichtigten und ganz merkwürdigen Sinn ergibt.

 

Der Roman »Daheim« erzählt auch von Erinnerung. Die Frau, die wir kennenlernen und die uns ihre Geschichte erzählt, erinnert sich an ihre Jahre als junge Frau, sie arbeitete in einer großen Stadt, führte ein anderes Leben. Im Zurückblicken tauchen zugleich unerwartete Momente wieder auf, Gerüche, eine Lichtstimmung am Morgen. Entfaltet sich Ihr Roman auch aus dieser Bewegung des Eintauchens in das Vergangene?

Der Roman zieht tastende Wege zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, ja. Er erzählt von der Erinnerung und vor allem vom Unwägbaren der Erinnerung, von ihrer Unzuverlässigkeit. Erinnern wir, was wir erinnern wollen? Oder erinnern wir, was wirklich gewesen ist und was eigentlich ist »wirklich«. Ich selber habe keine lineare Erinnerung, mir geht es wie der Ich-Erzählerin, ich erinnere eher Atmosphäre, unzusammenhängende Augenblicke, ein unerwartetes Aufblitzen von Bildern. Der Roman geht im Leben der Erzählerin weit zurück und Erinnern ist eine Aufgabe – die Erzählerin ist aufgefordert, das Vergangene noch einmal und noch einmal neu zu bedenken.

 

Im Zurückblicken scheint es der Erzählerin so, als habe sie als junge Frau keine Angst gehabt. Sie fragt sich, wieso sie damals so furchtlos gewesen ist. Zugleich findet sie in dieser neuen Landschaft am Meer eine neue Zuversicht, eine Kraft, eine Widerstandskraft. Woher nimmt sie diese Wehrhaftigkeit?

Ich glaube, das Alter, in dem die Erzählerin ist – Ende 40 –, kann den Eindruck vermitteln, bestimmte Dinge wären vorüber und vorbei. Die großen Entscheidungen sind getroffen, und es bleibt nicht mehr so viel übrig, außer da zu sitzen und anzusehen, was gewesen ist. Eine Zäsur – und wie dann aber weiter? Die Erzählerin erwartet einen gewissen Stillstand – stattdessen geschieht doch noch einmal etwas, und es passiert nicht gerade wenig. Das macht sie wach – und es macht sie wehrhaft. Sie lässt sich aufs Alleinsein und auf alle damit verbundenen, plötzlich möglichen Neuanfänge ein. Sie ist mutig – und der Mut bringt die Wehrhaftigkeit mit sich. Und vielleicht sind Wehrhaftigkeit und Mut letztlich ein und dasselbe.

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller ...

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Judith Hermanns Roman »Daheim«

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