Vor sechs Jahren wanderten Maria und ich von St. Goar nach Oberwesel – auf dem linksrheinischen Burgenweg, dem berühmten Rheinsteig gegenüber. Im Jahr zuvor waren wir in Cornwall auf dem Coast Path gewandert: Klippen und Wasser, Felsen und Meer. Das suchten wir nun bei uns in der Nähe. Und zugleich wollten wir die Landschaft unserer Jugend wiederentdecken: Wir stammen beide aus Koblenz, wo die Mosel in den Rhein mündet.
Im Rucksack hatten wir Abzüge von Aquarellen und Zeichnungen William Turners, der vor 200 Jahren durch das gleiche Tal gewandert war, und wir waren überrascht, wie sehr das Tal noch seinen Bleistiftskizzen glich. Auf der Wanderung schauten wir von oben in das Rheintal hinunter, das sich hier um die Loreley windet. Mit jedem Schritt entrollte sich die Landschaft vor uns wie auf einer chinesischen Bildrolle, die »Berge und Flüsse« zeigt, die beide zusammen das chinesische Zeichen für »Landschaft« bilden.
Auf seiner ersten Wanderung durch das Mittelrheintal 1817 sah Turner, wie sich das Tal genauso vor ihm entfaltete. Er zeichnete den Blick von der Loreley aus stromab, stromauf auf ein Blatt – für ihn war die Landschaft keine fixierte Ansicht, sondern ein dynamisches Entdecken. Sein Skizzenbuch war so groß wie eine Postkarte, und er wendete es im Kreis, um keine Ansicht der Loreley zu verpassen. Mitstenographierte Landschaft.