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Der Anfang der Moderne

Vor 75 Jahren ist der große Dramatiker, Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann gestorben. Günther Rühle, einer der wichtigsten deutschen Theaterkritiker, erinnert an die skandalumtoste Premiere von Hauptmanns erstem Stück »Vor Sonnenaufgang«.

Porträt des Schriftstellers und Dramatikers Gerhart Hauptmann in formalem Anzug vor dunklem Hintergrund
© Charles Scolik/ONB Bildarchiv Austria

Kaum vier Wochen später – am Mittag des 20. Oktober 1889 – ging im neu eröffneten stattlichen Lessing-Theater das erste Stück eines jungen Autors in Szene, der »still und uns allen unbekannt« an jenem Mittag des Jahres 1887 die erste Aufführung der ›Gespenster‹ und die Darstellungskraft Emanuel Reichers miterlebt hatte. Sie waren für ihn wie eine Erweckung. »Die Vorstellung zeigte mir das wiedererstandene Theater. Von da ab fühlte ich meinen Beruf. Unendliche Möglichkeiten tauchten in mir auf, und ich spürte Kraft und Liebe, ihrer einige durch mein Leben zu entwickeln«, notierte er noch zehn Jahre später im Tagebuch.

 

Der junge, blonde, eher zarte Mann im Seminaristenrock sollte die kommende Epoche prägen. Sein Name war Gerhart Hauptmann. Er war von diesem Tag an in aller Munde. Sein Schauspiel ›Vor Sonnenaufgang‹ bestätigte und verschärfte die von Ibsen gesetzte Zäsur und übertrug den Bruch ins deutsche Drama.

 

Auch Hauptmanns Text war längst bekannt. Schon im September schrieb Fontane, nachdem er das Stück gelesen hatte, an den Buchhändler Paul Ackermann: »Ich war ganz benommen, und ich kann Ihnen nur

gratulieren, etwas so hervorragendes edirt zu haben.« Einige Zeitungen brachten schon Besprechungen und Hinweise, Skandal und Protest wurden für die Aufführung angekündigt, die Schauspieler in Drohbriefen aufgefordert, ihre Rollen zu verweigern. Brahm strich – um dem Skandal vorzubeugen – schon etliche »Brutalitätselemente«, wie Fontane sagte. Man sah zum Termin und im überfüllten neuen Haus dennoch eine erstaunliche Aufführung. Brahm interessierte, wie Paul Schlenther bezeugte, weniger die ästhetische und soziale Tendenz des Stückes, »sondern der kühne Wagemut des Dichters, aller Konvention und Schablone gründlich zu entsagen, und der geniale Versuch, ein neues und volles Leben in dramatische Formen zu fassen«.

 

Was auf die Bühne kam, ging über die harte Realität der ›Gespenster‹ hinaus, wenngleich Hauptmanns Stück das gleiche Thema anzuschlagen schien: den Fluch der Vererbung. Aber hier war alles ausgeweitet, über das Familiäre ins Soziale und Gesellschaftliche. Die schlesische Bauernfamilie war reich geworden, weil man unter ihren Feldern Kohle entdeckt hatte. Auf der Bühne eine Bauernstube, in der die frühere bäuerische Dürftigkeit mit Anzeichen von bürgerlichem Luxus überdeckt war. Sofa, Tisch, Buffet, ein Klavier zeigten die höhere Ambition, das zweite Bild den Hof des Gutes mit Stallungen und Brunnen, alles sehr realistisch gebaut. Die Schauspieler bewegten sich in konkreten Räumen. Alles war auf Natürlichkeit bedacht: die Kostüme wie die Sprache der Figuren, die Färbungen des Dialekts bei den Bauern und die Ambitionen zum Hochdeutsch bei den Gebildeteren unter den Personen. Inmitten der Prosperität des Kaiserreichs sah man ein Stück menschlicher Verelendung, und diese gerade aus den Gründen, denen sich jene Prosperität mit verdankte.

 

Der grölende Bauer verkam im Suff wie seine trunksüchtige Tochter. Deren Mann, der Ingenieur Hoffmann, machte den Herrn im Haus und ging seinen Vergnügungen nach; ebenso die zweite Frau des Bauern, eine Hofmagd, die nun die Vornehme spielte und es mit ihrem debilen Neffen trieb. Man sah in einen Sumpf von Schnaps und Hurerei, in dem es nur eine Lichtgestalt gab: die junge, bei den Herrnhutern erzogene, auf den Hof zurückgekehrte Helene. Sie begann, den Alfred Loth, der zu sozialen Studien ins Haus kam, – ein Sozialdemokrat, der von einer glücklichen Menschenzukunft schwärmte – als ihren Retter zu sehen und zu lieben. Als er aber von dem Arzt Schimmelpfennig über die Zustände im Haus und die Folgen der Trunksucht aufgeklärt war, floh er das verkommene Milieu,Helene zurücklassend. Die stürzt aus dem Zimmer der gebärenden, trunksüchtigen Schwester, die ein totes Kind zur Welt bringt, ruft nach ihrem geliebten Loth. In ihr Erschrecken über seine Flucht dröhnt das Gelalle des trunkenen Vaters; die Schreie der Magd sind dann die wortlos-hysterische Nachricht vom Selbstmord Helenes.

 

Das wuchtige, harte, erschreckende und erschütternde soziale Stück schlug dem Optimismus der zweiten Gründerjahre kalt ins Gesicht. In dieser Verknäuelung von Klage, Anklage und bedrängender Wahrheit traf man auf ein Menschengeflecht, wie es bis dahin auf der deutschen Bühne nicht zu sehen war. Figuren, von den neuen Verhältnissen um den Verstand gebracht, andere sie ausnutzend, fliehend, verachtend oder erduldend. Menschenuntergänge, Liebesmöglichkeiten und Hoffnungszusammenbrüche, die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft und die Folgen neukapitalistischer Ausbeutung. Es schreckten nicht nur die geschilderten Zustände, man sah sich im realistischen Spiel der Darsteller in eine Unmittelbarkeit des Miterlebens versetzt, die in ihrem gesteigerten Paroxysmus manchem unerträglich schien. Im Schicksal der Helene vollzog sich zugleich und fast schon symbolhaft der Untergang des Schönen, das bis dahin zu den Idealen des Theaters gehört hatte. Es trug von alters her Helenas Namen. Die Aufführung wirkte durch die sorgsame Ausarbeitung aller Nebenrollen und im Zentrum durch das intensive Spiel der jungen Else Lehmann. Sie war die Helene, »heftig, herb, leidenschaftlich und zugleich doch weich und schmiegsam und von einer edlen Sehnsucht nach Wahrheit, Frieden und Liebe verzehrt«, das eine mit dem anderen verbindend. So rühmte sie Fontane, und Julius Hart schrieb von der »großen Instinktkünstlerin echt naturalistischen Geblüts« und nannte sie »die ursprünglichste elementargewaltigste Tragödin«. Es war ihr Durchbruch zu einer Hauptkraft des naturalistischen Theaters im künftigen Ensemble Otto Brahms, der sie vom Wallner-Theater geholt und den Schauspielern des Lessing-Theaters zugeordnet hatte. Regie führte abermals der Regisseur des Hauses, Hans Meery, der später in Stuttgart arbeitete. Gustav Kadelburg, dessen Name sich mit den erfolgreichsten Schwänken und der Heiterkeitskultur des Wilhelminischen Theaters verbindet, – er schrieb mit Oscar Blumenthal das Luststück vom ›Weißen Rößl‹ – spielte den Ingenieur Hoffmann.

 

Schon im Zweiten Akt (auf dem Gutshof) begann es im Publikum zu gären. Sogar die Liebesszene zwischen dem Weltverbesserer Loth und der jungen Helene, die viele der Kritiker rühmten, wurde durch Hohngelächter gestört. Als man im Fünften Akt die Geburtsschreie der Frau Hoffmann hörte, der Arzt im Vordergrund den Weltverbesserer Loth aufklärte und zu der Gebärenden gerufen wurde, brach ein Protest aus, der in die Geschichte des Theaters einging. Dr. Isidor Kastan, Arzt, Schriftsteller und Redakteur des ›Berliner Tageblatts‹, zog aus einem Paket eine Geburtszange, sprang vom Sitz auf und rief zornig, das Instrument schwenkend: »Soll ich helfen kommen, Herr Kollege?« So überliefert die Szene Ernst von Wolzogen, selbst Schriftsteller, bald Erfinder des ›Überbrettel‹, der in der Reihe hinter dem kleinen Kastan saß, den er einen »fanatischen Spektakelmacher« und »Spezialisten für sittliche Entrüstung« im ›Berliner Tageblatt‹ nannte. Es muss auch der Satz gefallen sein: »Sind wir denn in einem Bordell?« So wenigstens steht es in den Gerichtsakten des (vergeblichen) Prozesses, durch den Dr. Kastan aus der ›Freien Bühne‹ ausgeschlossen werden sollte. Die Ohren, die den Satz hörten, gehörten erlauchten Männern: dem schon erwähnten, stadtbekannten »Wippchen« und dem sehr ernsthaften Kritiker und Philosophen Fritz Mauthner, die man schon vorsorglich, sozusagen »als Polizisten«, neben den später auf dem Flur auch noch verprügelten Hitzkopf Kastan gesetzt hatte. In Kastans Aktion gegen die Zumutung der Szene wie gegen die ganze Veranstaltung steckte ein Protest gegen die naturalistische Richtung, die neue »Rinnsteinkunst« überhaupt, die sich hier Bahn brach. Kastans Geburtszangen-Aktion verwandelte sich unfreiwillig in eine symbolische Handlung. Die Aufführung bestätigte die Geburt einer neuen Epoche auf dem Theater: den Beginn der Moderne. So begriff der Student Alfred Kerr Kastans Aktion. Kerr schrieb, von Hauptmann begeistert, in sein Tagebuch: »Das ist er«; er stand an jenem Mittag hoch oben im Rang und rief von dort »Maul halten!« und dann »Hauptmann!... Hauptmann!...« Und seinen Enthusiasmus von damals fasste er mit den Worten: »Freiheit! Freiheit! Freiheit! Es sollte vorüber sein, bei uns, mit dem Leeren und Spießigen.«

 

Das Echo in den Zeitungen übertraf noch die Ablehnung der ›Gespenster‹. Im ›Börsen-Courier‹ hieß es, Hauptmanns Drama sei »das Abstoßendste, was je auf einer Bühne erschien, das Abstoßendste, das eine geübte Realisten-Phantasie ersinnen kann«. Der altehrwürdige Kritiker der ›Nationalzeitung‹, Karl Frenzel, nannte das Stück »eine Versündigung gegen Sitte, Gefühl und Geschmack«, Maximilian Harden, Starjournalist, abtrünniger Mitbegründer der ›Freien Bühne‹, sprach von einer »leider ernst gemeinten, ausgezeichneten Parodie«. Und Paul Lindau, Journalist, bekannter Stückeschreiber und einst Direktor des Meininger Hoftheaters, lobte die Liebesszene zwar als Beweis für das Hauptmannsche Talent, aber alles andere galt ihm als »widerwärtig«: »Ja, widerwärtig! Ich finde keinen milderen Ausdruck für das, was ich in diesem dramatischen Versuche als das Produkt der neuen Schule betrachten muß. Was will sie denn eigentlich, diese neue Schule? Wahrheit? (...) Ist nur das Häßliche, das Ekelhafte wahr? nur der Unrat, die Jauche, die Kloake? Ist alles Andere Lug und Trug, feige Beschönigung und jämmerliche Schminke? Da stehen wir eben am Scheidewege.«

 

In den Fragen steckte ein Stück Lindauscher Selbstverteidigung seiner eigenen dramatischen Arbeiten, die das Gefällige nicht vermieden. Deutlicher als nach den ›Gespenstern‹ definierte er jetzt seinen Standpunkt jenseits des Neuen. Er sprach vom »Hervortreten eines irregeleiteten Talents« und zugleich von der »Niederlage jener Schule, die alles, was nicht aus dem muffigen Dunste ihrer ozonleerenWerkstatt hervorkommt, für eitel Schund erklärt«. Theodor Fontane, der in der ›Vossischen Zeitung‹ zweimal zu dieser Uraufführung schrieb, »amüsierte« sich »über Lindau und Landau«, ja selbst über Frenzel: »alle diese Kritiken (...) sind so gewiß auf dem Holzwege, wie ich hier sitze. Das alles sind Schimpfereien und Ulkereien (...) entweder ohne jedes wahre Kunstverständnis geschrieben oder unter Zurückdrängung aller besseren Einsicht.«

 

Fontane war unter den Rezensenten dieses Morgens wirklich der »Gonfaloniere [Bannerträger] der ›Neuen‹ in vorderster Reihe«, wie er sich seinem Sohn Theodor gegenüber vor der Aufführung nannte. Am Tage danach las man bei ihm die ernsthafteste, klarste Darlegung und Bewertung des Hauptmannschen Stücks. Er rühmte den besonderen Ton des Autors, »denn er ist gleichbedeutend mit der Frage von Wahrheit oder Nicht-Wahrheit (...) er hat nicht bloß den rechten Ton, er hat auch den rechten Mut und zu dem rechten Mute die rechte Kunst.« Er setzte den jungen Hauptmann in Beziehung zu Ibsen: »Er erschien mir einfach als die Erfüllung Ibsens. Alles, was ich an Ibsen seit Jahr und Tag bewundert hatte, das ›Greif nur hinein ins volle Menschenleben‹, die Neuheit und Kühnheit der Probleme, die kunstvolle Schlichtheit der Sprache, die Gabe der Charakterisierung, dabei konsequenteste Durchführung der Handlung und Ausscheidung alles nicht zur Sache Gehörigen, – alles das fand ich bei Hauptmann wieder, und alles was ich seit Jahr und Tag an Ibsen bekämpft hatte: (...) das Bestreben, das Zugespitzte noch immer spitzer zu machen, (...) das Orakeln und Rätselstellen, (...) alle diese Fehler fand ich bei G.Hauptmann nicht.« Im Brief an seine Tochter

Martha vom 14. September 1889 war er noch deutlicher: »Dieser Hauptmann, ein wirklicher Hauptmann der schwarzen Realistenbande (...) ist ein völlig entphraster Ibsen, mit anderenWorten, ist das wirklich, was Ibsen bloß sein will und nicht kann (...) er gibt das Leben, wie es ist, in seinem vollen Graus.« Paul Schlenther hat später an diesem Stück definiert, was das Naturalistische sei: »die von keiner konventionellen Rücksicht befangene, unverfrorene Darstellung sittlicher Zustände, in denen sich der Mensch wieder der Naturverfassung des Tieres nähert.«

 

Entschiedener, sicherer ist kein neuer Dramatiker begrüßt und einer verwirrten Öffentlichkeit empfohlen worden. Dem Erscheinen Hauptmanns widmete Fontane seine letzten Kritiken. Es war eine Handreichung über die Generationen hinweg. »Ich finde, die Jugend hat recht. Das Überlieferte ist vollkommen schal und abgestanden; wer mir sagt: ›Ich war gestern in Iphigenie, welch Hochgenuß!‹ der lügt oder ist ein Schaf und Nachplapperer«, schrieb er am 29. April 1890 an Friedlaender, seinen Freund.

 

Die Spannungen zu Hauptmann, die Verdikte legten sich mit den nächsten Stücken. ›Das Friedensfest‹ und ›Einsame Menschen‹ beschrieben die seelischen Interieurs der Familien; es waren Menschen- und Milieustudien der feinsten Art. Erst als Brahm Hauptmanns neues Stück ›DieWeber‹ ankündigte, bauten sich die Fronten wieder auf.

 

Aus: Günther Rühle: »Theater in Deutschland 1887–1945. Seine Ereignisse – seine Menschen.« Frankfurt am Main: S. Fischer, 2007. S. 35–41.

Günther Rühle, einer der angesehensten deutschen Theater­kritiker und Theaterschriftsteller, wurde 1924 in Gießen geboren. Er war von 1960–1985 ­Redakteur im Feuilleton der ›­Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹, seit 1974 auch dessen Leiter. 1985–1990 übernahm er die Intendanz des Frankfurter ­Schauspiels, war danach Feuille­tonchef des ›Tages­spiegel‹ in Berlin. Er editierte u. a. die ...

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